Komplexes Zusammenwirken

MARTINA RUHSAM ZU KONDITIONEN DER GEMEINSCHAFT UND DES
MIT-SEINS


Von Bellis Schneewein

Zusammenarbeit bildet eine wesentliche Grundlage der darstellenden Kunst und das Zusammenwirken von Einflüssen im Austausch innerhalb einer Gruppe ist eine komplexe Angelegenheit. Setzungen, wie zum Beispiel, wer ein Projekt initiiert, wer sich um die Finanzierungen kümmert, wer es wie kommuniziert, wer als Ansprechsperson fungiert, wer als RepräsentantIn geltend gemacht wird und nicht zuletzt die Vertrautheit der Mitwirkenden untereinander, sind wesentlich in dem scheinbar freien Spiel von Äußerung, Anerkennung und Fürsprache. Aus ihnen entsteht ein politisches Gefüge, das sich mit den repräsentativen Strukturen verknüpft.

„Kollaborative Praxis: Choreographie“ von der Autorin, Choreographin und Performerin Martina Ruhsam widmet sich diesen Bedingungen, die vor allem in den Nuller Jahren die zeitgenössische Choreographie und Performance beschäftigten. Wurden künstlerische Kollaborationen in den 1960-er Jahren oft durch gesellschaftliche Utopien zusammengehalten, werden in diesem Buch die Rahmenbedingungen untersucht, die eine größtmögliche Heterogenität zulassen.

Philosophische Positionen und künstlerische Praktiken

Es ist ein kluges Buch, in dem kluge Menschen zu Worten kommen. Es fächert die Konditionen der Gemeinschaft, oder des Mit-Seins (wie es im Laufe des Buches nach Jean-Luc Nancy benannt wird), grundlegend auf: mittels philosophischer Positionen von Jean-Luc Nancy, Jacques Derrida, Maurice Blanchot und Paolo Virno; anhand von künstlerischen Praktiken und Projekten von Ivana Müller, Collect-if, Xavier Le Roy, dem Artist Twin Kattrin Deufert und Thomas Plischke, nadaproductions (Amanda Piña und Daniel Zimmermann) und mit Überlegungen bezüglich der (Nicht-)Gemeinschaft von Zuschauern.  Komplizenschaften und Netzwerkeffekte (Koproduktion, Selbstorganisation, Selbstreferenzialität) werden reflektiert und Formen von Partizipation medientheoretisch beleuchtet. Martina Ruhsam ist eine Überlagerung der philosophischen Auseinandersetzung mit den künstlerischen Diskursen gelungen, welche die Landschaft der zeitgenössischen erweiterten Choreographie in Europa während der vergangenen zehn Jahre gestalteten. – Und es wird einmal mehr sichtbar, wie sehr künstlerische Praktiken, Theorie und Produktion einander befruchtet haben.

Diejenigen, die Teil dieser Szene sind, werden in „Kollaborative Praxis: Choreographie“ vielen alten Bekannten begegnen. Für jene, die nicht Teil dieser Szene sind, eröffnet das Buch wesentliche Bereiche und Auseinandersetzungen der zeitgenössischen Choreografie. Martina Ruhsam hat, in sorgfältiger Gedankenführung und klarer Sprache, prominente Argumentationslinien aufeinandertreffen lassen, die sich gegenseitig kritisch reflektieren. Trotzdem sei erwähnt, dass die Eloquenz, Balance und Systematik, mit der sich in „Kollaborative Praxis: Choreographie“ die anerkannten TheoretikerInnen und KünstlerInnen das Wort reichen, ein wenig unheimlich ist. Es erinnert an das Weitergeben einer Stafette in einem eingespielten Team.

In dem komplexen Zusammenwirken von operationellen Vorgangsweisen, Konsequenz und Systembildung hat Martina Ruhsam mit „Kollaborative Praxis: Choreographie“ ein erstaunlich sicheres Gebinde geschaffen. Es wäre interessant, anhand dieses Buches die immanente Offenheit von Kollaborationen weiter zu thematisieren. Denn in den daraus entstehenden Schwierigkeiten, diese adäquat zu kommunizieren, ihrem Verhältnis zur repräsentativen Verwaltung und deren wirtschaftlichen Konsequenzen, stecken brisante Fragestellungen, welche die Weiterentwicklung der zeitgenössischen erweiterten Choreographie wesentlich beeinflussen werden.


Martina Ruhsam: Kollaborative Praxis: Choreographie. Die Inszenierung der Zusammenarbeit und ihre Aufführung. Wien; Berlin: Turia + Kant 2011.


 (13.2.2011)