Im_flieger FLIEGT. Abschied. Aufbruch

Sabina Holzer ’11
in Zusammenarbeit mit Anita Kaya-Haselwanter

Broschüre für: Im_flieger FLIEGT.Abschied.Aufbruch.
Das WUK ist 30, Im_flieger ist 10.
Begegnung von Kunst, Gesellschaft und Territorien.


Einige Worte vorab an die LeserIn:

„Wir“ – wenn ich dieses persönliche Fürwort hier vorübergehend als Eigennamen benutzen darf – wir waren immer mehrere. Meist zu dritt, immer aber mindestens zwei.
In diesem Sinne ist auch das Fürwort „ich“ hier als ein Eigenname zu verstehen. Dieses Ich, das hier schreibt, ist ein offenes, vielgestaltetes Ich. Eines, das unterschiedliche Rollen eingenommen hat und einnimmt. „Ich“ ist ein Name und keine Personenzuschreibung. Diese Erzählung hier ist eine subjektive. In dem Moment des Aufschreibens bin ich die Erzählerin. Als Erzählerin habe ich Stimmungen, Fakten, Gedanken und Fiktionen gesammelt und verknüpfe sie hier zu einem Text, der hoffentlich über sich selbst hinausweist und Dir, liebe LeserIn, etwas anbietet, mit dem Du selbst aktiv werden kannst.

1.
Seit einiger Zeit sind wir zu nun dritt. Zugleich waren wir immer mehrere. Wir haben, seit wir uns gefunden haben und uns immer neu erfinden wollen und müssen, daran gearbeitet, anderen durch uns eine Möglichkeit der Präsenz zu geben. Hier sprechen wir von den Anderen, die einer Tendenz von Nicht-Existenz ausgesetzt sind. Die Unterstützung dieses Prekären ist und war stets eng verbunden mit dem Wissen, dass das Prekäre immer Teil der Existenz ist – auch mit unserem eigenen Prekariat – so anstrengend und unangenehm es auch sein mag. Es ist wesentlich, ihm Anerkennung zu geben. Und so haben wir uns entschieden, dem Prekären eine Begleitung anzubieten, eine kurze Erholungspause. Eine Möglichkeit, sich selbst zu vergessen und sich auszubreiten, sich zu verwandeln und als etwas anderes sichtbar zu werden.
Wer weiß, vielleicht kann sich auf diese Weise etwas Ungewöhnliches, Singuläres entfalten, so dachten wir. Manchmal ist es geglückt, manchmal nicht. Wir haben uns vorgenommen, was immer in diesen Möglichkeiten entsteht, in erster Instanz nicht zu bewerten, sondern es erst einmal zu begrüßen. Entgegen gängigen Vorstellungen ist das nicht immer einfach. Allerdings sind wir ja auch nicht losgezogen, um etwas Einfaches zu tun oder zu finden. Einfach oder nicht, darüber haben wir, ehrlich gesagt, nicht so viel nachgedacht. Wir waren froh über jede Unterstützung und haben uns eingesetzt, um unsere Vorstellungen verwirklichen zu können.
Dass wir dadurch in so einen unseligen Krieg gelangt sind, war von unserer Seite nicht vorhersehbar. Vielleicht haben wir etwas übersehen. Wenn Du, liebe LeserIn, im Laufe der Erzählung diesbezügliche Hinweise hast, wären wir dankbar, wenn Du sie uns mitteilen möchtest.
Es sei hier gesagt: Wir sind ebenso geprägt von der Geschichte dieses „Ortes“ (wie wir es hier nennen wollen), wie wir auch seine Geschichte mitbestimmt haben. Darüber sind wir froh und dankbar. Ohne ihn und die Anderen hätte es uns nicht gegeben. Er und die Anderen waren auf vielerlei Weise Teil unserer Existenz. Ohne diese Unterstützung und Beteiligung hätten wir nie auf diese Art aktiv werden können, hätten nicht geben können, nicht werden können. Es wird oft so getan, als wäre das ein unwesentlicher Teil der Vergangenheit und jetzt für uns nicht mehr nötig. Aber in diesem Moment, während alle Vorbereitungen laufen, um diesen Ort zu verlassen, möchte ich Dir, liebe LeserIn, im Vertrauen mitteilen, dass wir uns in die unbekannteste Zukunft aufmachen. Dieser Ort war wesentlich für unser Wirken. Er war unser Zuhause und unsere Basis.

2.
Ich weiss nicht, wie sich diese Giftgasbombe entzünden konnte. Etwas hat sich in jedem Fall entzündet. Wie eine schwelende Glut hat sich das Gift ausgebreitet und mit ihm Verwirrung, Panik und ungenaues Zielen mit Waffen für kurze Reichweite. In diesem Dunstkreis kamen plötzlich unerwartete Strukturen und Hierarchien zum Vorschein. Ungreifbare Geister, die sich verwandeln, sobald man ihnen näher kommt, und sich unmittelbar rächen und zurückschlagen, wenn man sie beim falschen Namen nennt.
Auch die Basisdemokratie, das stolze Gesetz dieses Ortes, die in jedem Fall eine komplexe Angelegenheit ist und eine gewisse Hingabe erfordert, blieb nicht von diesem Gift verschont. Auf einmal konnten manche ihre persönlichen Interessen durchsetzen, oder eine Gruppe konnte die Bedürfnisse von einer Minderheit einfach ignorieren. Was ja eigentlich nicht Sinn der Sache ist. Solche unheimlichen Geschichten haben nicht nur wir erlebt. Sie sind die stille Post, das selbständige Gemurmel des Ortes. Diesem Raunen wird jedoch meist keine Beachtung geschenkt. Es gab auch eine Erscheinung, bei der aus dieser so ermüdenden Basisdemokratie eine repräsentative Struktur gewählt wurde, die bald eine gewisse Entscheidungsgewalt übernommen hat. Entscheidungen implizieren ja oft einen gewissen Grad an Gewalt, wie sie jede Setzung mit sich bringt. Und wenn man dieses Regelwerk der Entscheidungen nicht wieder und wieder befragt – kritisch, aus der Distanz und trotzdem eingehend (was in jedem Fall aufwendig ist) –, dann verselbständigt es sich. Soviel ist sicher.
– Natürlich hatte niemand von uns die nötige Distanz, alle waren mittendrin. Alle atmeten das Gift ein und mischten es mit dem eigenen giftigen Ausatmen. Auch die Taktik des Luftanhaltens bot auf Dauer keine Lösung. Manche haben sich verkrochen, wollten dem Gift ausweichen, versuchten sich durch anderweitige Beschäftigungen zu schützen, oder sind, ob der großen Anstrengung, einfach eingeschlafen. Es waren einige wenige, die immer wieder versucht haben, frischen Wind in den Dunst zu bringen. Leider war alles vergeblich. Und so waren wir alle Teil dieses Gifts, auch die, die sich nicht beteiligten.

3.
An dieser Stelle möchte ich gerne ein paar Gedanken weitergeben, auf die ich gestoßen bin. Es sind nicht meine eigenen Überlegungen. Sie sind mir auf einem meiner Streifzüge durch die Stadt in die Hände gefallen. Manchmal, wenn ich eigenartig losgelöst in die unbekannten Zirkulationen der Stadt einsteige, stoße ich auf Dinge, auf die ich antworten muss. Ich meine Sätze aus Büchern oder Eindrücke, die in mir etwas in einer Dringlichkeit hervorrufen, womit ich aktiv werden muss, dem ich einen Raum geben muss, in dem sich diese Eindrücke, Rufe und Gedankenbahnen weiter bewegen können. Es mag absurd erscheinen, denn in gewisser Weise suche ich solche Beunruhigungen, die meine Sicherheiten erschüttern und in Frage stellen. Als würde ich Unfälle inszenieren, deren Auswirkungen ich eigentlich nicht kontrollieren kann.
Lass mich, liebe LeserIn, diese weiße Fläche, dieses virtuelle Blatt Papier auf meinem Bildschirm als Raum nützen, um diese Bewegungen aufzusuchen. Und auch gleich die Einladung aussprechen, Dich an diesem Tanz zu beteiligsen und deine Wendung an den Drehungen, Verschiebungen und Sprüngen, die diese Gedanken bei mir ausgelöst haben, hinzuzufügen.
Es gibt zwei Bereiche, die mein Leben bestimmen und denen ich mich hier gerne ein wenig widmen möchte: die Kunst und die Politik. Denn ich suche Möglichkeiten von Freundschaft, versuche so etwas wie Solidarität. Auch ist meine Neugierde bezüglich des Anderen, dessen, das nicht ich bin, des Fremden – das will ich zugeben – groß. Es ist eine kindliche Lust am Abenteuer. Kinder, diese wundersamen Wesen, die ich nur ergründen und nicht begründen kann, sind verletzbar und werden von ungestümer Klarheit angetrieben. Diese Verbindung – der Kraft des Begehrens und der Verletzlichkeit –, die bei allen Unternehmungen eine beträchtliche Rolle spielt, möchte ich hier aufsuchen.
In diesem kleinen Büchlein, das mir sozusagen ein Lieblingsstolperstein geworden ist, steht ungefähr Folgendes:
– Kunst und Politik sind keine fest stehenden und voneinander getrennten Wirklichkeiten, sondern zwei Formen der „Aufteilung des Sinnlichen“. Die „Aufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren“ entspricht der Verteilung der Rollen und Teile, die eine politische und soziale Ordnung konstituieren. Es sind grundlegende, sozial vermittelte Formen: „Wer kann reden? Wer wird gehört? Wer wird gesehen?“
Es stellt sich also die Frage der Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, des Gehörtwerdens und Nicht-Gehörtwerdens des Einzelnen im Gemeinsamen.
Der Begriff des Politischen wird von jenem Autor neu gefasst, indem er all die gemeinhin als politisch geltenden Vorgänge – Vereinigungen und Übereinstimmungen von Gemeinschaften, Organisationen und Mächte, Verteilung der Plätze und Funktionen sowie die Legitimierung dieser Verteilung – als polizeiliche Vorgänge bezeichnet. Im Gegenzug gibt es Politik, wenn es einen Ort und Formen für die Begegnung zwischen zwei ungleichartigen Vorgängen gibt. Somit ist Politik mitnichten eine Realität, die sich aus den Notwendigkeiten der Versammlung der Menschen zu einer Gemeinschaft ableitet. Sie ist sogar die Ausnahme zu den Prinzipien, denn die „normale“ Ordnung der Dinge ist leider immer noch, dass menschliche Gemeinschaften sich unter der Herrschaft derjenigen versammeln, die den Anspruch zu herrschen stellen.
Das Wesentliche der Politik, wie sie hier vorgeschlagen wird, ist der Dissens, die Uneinigkeit. Dissens heißt in diesem Fall nicht die Konfrontation der Interessen oder Meinungen, sondern bedeutet die Möglichkeit der Ungleichheit. Es bedeutet, dass diejenigen, die kein Recht zu sprechen haben, das Wort ergreifen, um dem Nicht-Gehörten Gehör zu geben.
Der Dissens, so wird meist gesagt, sei das Gegenteil des Konsens, eine vernünftige Einigung. Hier wird gesagt, das Wesentliche des Konsens ist die Annullierung des Dissens. Die Annullierung der Ungleichheit, also von Differenzierungen und Differenzen. Die Annullierung der überschüssigen Subjekte, die Reduktion auf die Summe der Teile des Gemeinschaftskörpers. Die Reduktion der politischen Gemeinschaft auf die Beziehungen von Interessen und Bestrebungen der verschiedenen Teile. Der Konsens ist die Reduktion der Politik auf die Polizei.
Diese Gedanken weisen darauf hin, dass ein Konflikt, eine Ungleichheit wesentlich ist, damit so etwas wie Politik überhaupt entstehen kann. Politik äußert sich in dem Umgang mit einem Konflikt, einer Ungleichheit, die nie völlig zu lösen ist. Es ist eine andauernde Herausforderung für alle Beteiligten, nämlich die, einen Umgang mit diesem Konflikt zu finden, ohne Beteiligte zu unterwerfen oder sich zu unterwerfen.
Kunst ist dann politisch, wenn sie das, was dieser Autor unter Politik versteht, auf ästhetischer Ebene vollzieht. Nämlich nicht Stabilisierung der herrschenden Mächte, sondern Angriff auf die herrschenden Einteilungen in Macht/Ohnmacht, Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, eine Stimme haben/nicht gehört werden. Politik und Kunst sind für ihn dann „gelungen“, wenn sie die herrschende „Aufteilung des Sinnlichen“, die auch eine Herrschaft über die Wahrnehmung ist, erfolgreich konterkarieren. Kunst ist weder politisch aufgrund der Botschaft, die sie überbringt, noch aufgrund der Art und Weise, wie sie soziale Strukturen, politische Konflikte oder soziale, ethnische oder sexuelle Identitäten darstellt. Kunst ist in erster Linie dadurch politisch, dass sie ein raum-zeitliches Sensorium schafft, durch das bestimmte Weisen des Zusammen- oder Getrenntseins, des Innen- oder Außen-, Gegenüber- oder In-der-Mitte-Seins befragt und anders gestaltet.

4.
Dieses verdammte Gift. Es verfolgt mich bis in meine Träume. Es hat uns sogar aus unserem Arbeitsraum gedrängt. Man meint es überall zu riechen. Es dringt durch die Poren und breitet sich unter der Haut aus. Die Augen tränen, als ob man ständig am Heulen wäre. Man kann nicht mehr richtig sehen, was sicherlich zu der allgemeinen Verwirrung und Panik, die so salopp als Nebeneffekte bezeichnet werden, beigetragen hat. Meine rechte Seite wurde mit der Zeit bleischwer. Ein Fremdkörper, der sein eigenes Leben führt.
Manchmal, in Momenten unerwarteter Erleichterung, nannten wir das Gift Würgeengel. Wir verwandelten es einfach in eine Figur, die uns das Gefühl gab, wir könnten entkommen. Flucht ist eine intelligente Lösung, auch wenn sie nicht als heldenhaft angesehen wird.
Selbst in meinem Traum war es Nacht, und ich spürte eine unheimliche Unruhe in meinem Haus. Schattenhafte Anwesenheiten. Nicht solche, die mir unbekannt, aber vertraut sind, mit denen ich versuche, Umgang zu pflegen. Es war, als würde sich etwas Namenloses in meinem Haus ausbreiten. Ich fühlte mich und das Leben meines Kindes bedroht. Ich schloss die Fenster und ging zur Tür, um zu schauen, ob sie gut verschlossen war. Gerade, als ich versuchte, mich selbst zu beruhigen und wieder am Weg ins Bett war, packte mich etwas von hinten. Ich drehte mich blitzschnell um. Da war ein Zwerg. Eine kleine, eigenartige, groteske Kreatur. Ich drückte ihn mit aller Kraft von mir weg. Plötzlich verwandelte sich meine schmerzende bleierne rechte Seite in einen metallenen Arm, dessen Hand vorschnellte und den Zwerg an der Kehle packte. Mit eisernem Griff drückte meine Hand zu. Die kleine Gestalt riss ungläubig die Augen auf, versuchte meine Hand von seiner Kehle zu lösen. Der Zwerg schlug um sich. Es war lächerlich. Seine Arme waren zu kurz, um mich überhaupt zu treffen. Mit jeder seiner Bewegungen drückte ich fester zu, angewidert und erstaunt über mich selbst. Ich fühlte die panischen Atemversuche und reflexartigen Schluckbewegungen seiner Kehle durch meine eiserne Hand. Irgendetwas in mir hatte so etwas wie Mitleid. Meine zweite Hand folgte der ersten, um besser zudrücken zu können. Ich schwebte über meinem Körper und beobachtete, wie ich diesen Zwerg erwürgte. Es gab keinen anderen Weg. Ich wachte in kaltem Schweiß gebadet auf. An meiner Kehle rote Striemen.

5.
Der Flieger erzählt:
Nun, für die, die mich nicht kennen, sei kurz gesagt, ich bin ein großer, heller Raum. Ich bin Teil des Ortes, der einmal eine Lokomotivenfabrik war und später ein Lehr- und Forschungsgebiet des Technologischen Gewerbemuseums. Ich habe viel erlebt, das kann man wohl sagen. Es würde zu lange dauern, hier über die aufregende Zeit der sogenannten „Besetzung“ zu erzählen. Trotzdem will ich erwähnen, dass ich „Flieger“ genannt wurde – ein Name, den ich übrigens sehr liebe –, weil einmal Modellflieger in mir gebaut wurden. Aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen änderte sich diese Nutzung. Plötzlich waren da nicht mehr Menschen, die mit Werkzeugen an einer Maschine bastelten, die in die Lüfte steigen sollte, sondern Menschen, deren Werkzeug ihre Körper selbst waren. Ich hoffe, ich sage das richtig. Es ist nicht immer einfach für mich, wie ich so daliege und Menschen in mich hineintreten und wieder hinausgehen, die Zusammenhänge gut zu verstehen.
Die Menschen, die ihren Körper als Werkzeug benutzten, haben mir viele Tänze und Geschichten gezeigt. Auch solche, die andere nicht gesehen haben. Tänze, die von außen kaum zu sehen sind. Beinah reglose Gestalten, die stundenlang am Boden liegen. Tänze, die sich als seitenlange Notizen äußerten, in Lachen oder in heftigen Diskussionen. Auch wundersamen Bewegungen von Einzelnen und Mehreren durfte ich beiwohnen. Nicht zu vergessen all die Geräusche, Klänge und die Musik, die in mir gemacht wurden. Ich bin ein stiller Zeuge der Kunst des Probierens, so dachte ich oft. Manche nannten es auch „Freiraum“. Freiraum für die Kunst! Das ist immer noch meine Parole. Und ich bin froh, ausgerechnet Tanz, Theater und Performance bei mir empfangen zu können. Dieses Flüchtige und Ephemere passt zu meinem Namen, fand ich immer.
„Choreographie hat ein proto-politisches Potential, das heißt, ein Potential, der Politik der Herrschaft entgegenzutreten.“ Diesen Satz habe ich einmal gehört und mir gleich gemerkt, weil er mir gefällt. „Der Politik der Herrschaft entgegenzutreten“ klingt gut, finde ich, und ist wichtig. Vor allem, weil sich diese Politik der Herrschaft sehr leicht ausbreitet. Sie ist überall zu finden. Jeder hat das Potential, zu herrschen und andere zu beherrschen. Das geht oft schneller als man denkt. Und schon ist er da, der Machtkampf. Ich habe viele davon in meinen vier Wänden hier erlebt. Als ob das die natürliche Ordnung der Dinge wäre. Eine ständige Bewegung von Mikromechanismen, die es beständig zu dekonstruieren gilt, damit etwas Anderes zur Wirkung kommt, Raum bekommt. Und der Raum, der bin ja ich.
Und dann wurde ich zum Theater. Nicht ein Proberaum, der groß genug ist, um Performances oder Prozesse zu zeigen, nein, ein richtiges Theater. Ein behördlich anerkanntes Theater. Die Begeisterung Weniger packte die Anderen, und manche unterstützten dadurch, dass sie sich nicht entgegen stellten.
Diese Veränderung hat gedauert. Stunden an internen Diskussionen unter diesen Menschen, deren Instrument der Körper und das Spiel ist. Stunden an Diskussionen, die Finanzierung betreffend. Konflikte. Lösungen. Aufbau und Entwicklung der Kommunikation mit den Behörden. Es war, als würde plötzlich innerhalb dieses Ortes ein zusätzlicher offener Raum gestaltet. Ein öffentlich anerkannter Raum, ein Theater für eigenartige, wundersame Bewegungen und Stimmen von Menschen dieses und anderer Orte. Ein Theater für Performance, für junge Kunst. Das gab es in diesem Ort noch nicht. Vor allem in dieser Verbindung von unterschiedlichen Organisationsstrukturen. Es war nicht immer leicht, Lösungen zu finden. Der Ort bot Schutz vor den Anforderungen des Marktes. re_Gielfim oder so ähnlich nannte sich das Projekt. Man muss mir verzeihen; nicht nur, dass ich ein schlechtes Namengedächtnis habe – es kommen und gehen so sehr viele! – Ich bin auch noch legasthenisch, und Buchstaben fliegen mir immer durch Raum und Zeit. Auf jeden Fall war ich stolz und glücklich, dieses einzigartige Projekt beherbergen zu dürfen. Es gelang mit vereinten Kräften und großer Unterstützung verschiedener Helfer dieses und anderer Orte. So wurde ich größer als ich selbst. Ich wurde zur Landebahn für künstlerische Experimente – und natürlich auch weiter als Proberaum genutzt. Ich stand in Verbindung mit anderen Orten der Stadt, des Staates und der Welt.
Durch die Anerkennung als Theater wurden die Produktionsbedingungen als Teil des öffentlichen Lebens und der politischen Verwaltung der freien Tanz- und Performanceszene mitkommuniziert.
Aber die Zeiten ändern sich. Und die Politik verändert sich. Auch hier an diesem Ort. Auch für mich in meiner Funktionalität. Anscheinend hat ein Wandel stattgefunden. Bin ich plötzlich nicht mehr groß genug? Das kann ich nicht glauben.
Und so kommt es, dass ich, scheinbar unveränderlich mit meinen vier Wänden, in letzter Zeit viel über Solidarität und Gemeinschaft nachdenke. Was bedeutet künstlerisches Schaffen? Wo und auf welche Art wird es gestaltet?

6.
In der Nutzung dieses Raumes hatten wir natürlich viele Gespräche, und diese Gespräche gehen weiter. Wir wollen Klarheit schaffen und Fragen beantworten. Für uns selbst und für beziehungsweise mit Anderen.
Sind wir Künstlerinnen oder VeranstalterInnen? Nein, keine VerantstalterInnen im herkömmlichen Sinn. In all unseren Konzepten haben wir bewusst die Formulierung des Veröffentlichens von künstlerischer Arbeit gewählt, um uns hier abzugrenzen. Wir versuchen, von den Bedürfnissen der Künstlerinnen ausgehend zu denken, von den Bedingungen des künstlerischen Schaffens. Vom Beginn unserer Tätigkeit an hat sich das künstlerische Arbeiten auch immer mit dem Nachdenken und Entwickeln von Strukturen verbunden, gerade hier. Es gab eine Zeit, da war dieser Ort eine Spielwiese für das entstehende freie Tanzfeld. Die Tanz-/Theaterkünstlerinnen haben selbst bestimmt, was Kunst ist, haben ihre Arbeiten überall an diesem Ort veröffentlicht, unterstützt durch die Logistik des Ortes. Was hier produziert wurde, war Programm. Es war ein autonomes Veröffentlichen, ohne den Mechanismen des Marktes untergeordnet sein zu müssen. Diese Strukturen haben ja damals kaum existiert. Der Ort wurde als spannender Theater-/Tanzort sichtbar und, dem großen Interesse von Presse und Publikum Folge leistend, anfangs auch über das Theaterreferat mitfinanziert, so hörte ich.
Ich möchte kurz versuchen, Dir, liebe LeserIn, das Bedürfnis, als KünstlerIn und VeranstalterIn tätig zu sein, näher zu bringen. Es entspringt dem Wunsch, künstlerische Produktionsprozesse zu unterstützen, Möglichkeiten zu schaffen, um Prozesse zu veröffentlichen und so differenzierter weiterarbeiten zu können. Oder auf diese Art über das eigene Schaffen besser in Kommunikation und Austausch treten zu können. Wir waren und sind weniger dem Profilierungszwang von VeranstalterInnen und KuratorInnen ausgesetzt. Wir haben mehr Möglichkeiten, Risiken einzugehen. Oder erleben es nicht als Risiko, auch weil wir bisher in diesen Ort eingebunden waren.
In gewisser Weise kann man sagen, dass die Veranstalter, die mittlerweile meist KoproduzentInnen und KuratorInnen sind, bestimmen, was Kunst ist und was nicht, weil sie die Präsentationsorte besetzen und die meisten finanziellen Mittel zur Verfügung haben. Mit der Zeit hat sich das Verhältnis zwischen KünstlerInnen und VeranstalterInnen sicherlich verändert; trotzdem bleibt es geprägt von Ungleichheit und Abhängigkeit. Uns geht es darum, hier die Territorien zu überschreiten, die Grenzen auszuweiten, Brücken zu bauen, bestimmte festgefahrene Zuordnungen und Vorstellungen zu hinterfragen. Einerseits mit der Initiierung und Veröffentlichung von performativen Formaten, aber auch, um Möglichkeiten von Zusammenarbeit, Unterstützung, Solidarität und Vernetzung zu schaffen. Wir wollen ein Bewusstsein des Feldes und der Zusammenhänge schaffen. Als Versuch, das „Veranstalten“ von Tanz/Performance prozessorientiert, emanzipatorisch und inklusive zu denken.
Wie der Spagat zwischen der Tätigkeit als Dienstleister für andere und eigenem künstlerischen Interesse zu leben ist und die beiden Pole zu vereinen sind, ist für uns immer wieder Thema. Wir versuchen, unterschiedliche Möglichkeiten zu entwickeln und damit umzugehen. Mit der Zeit haben wir dieses Schaffen von Möglichkeiten, das Entwerfen von verschiedenen performativen Strukturen, als eine Form künstlerischer Arbeit begriffen, im Sinne eines erweiterten Kunst- und Choreografiebegriffs.

7.
Gestern Nacht bekam ich wieder Besuch: der Zwerg. Er war nicht tot. Aber ich fühlte mich seit dem letzten Mal ein Stückchen unmenschlicher. Der Zwerg hatte Flügel bekommen, deren Federn lauter M4-Karabiner waren. Ein Seil in der Hand, das sich in einen Richterstab oder in eine Schlinge verwandelte. Er flüsterte in mein Ohr: „Schau mich an und hör auf zu träumen. Du magst mich Zwerg nennen, aber ich bin groß. Ich kenne diesen Ort, den du dein Zuhause nennst, sehr gut. Er ist mein Zuhause. Ich war und bin Teil der verschiedenen Strukturen dieses Ortes. Ich habe den Durchblick. Du hältst dich nicht an Absprachen und denkst nur an dich. Als ob du das Wichtigste wärst. Das bist du sicher nicht. Du sagst, du kämpfst für eine Sache. Ich sehe, du kämpfst nur für dich. Du willst kämpfen? Gut!“ Aus den Karabinern lösten sich einige Schüsse. „Kunst hin oder her“, sagte er wie zu sich selbst: „Wo sind sie die KünstlerInnen? Wir sind alle Künstler. Ob es dir passt oder nicht.“ Er zog einen Taschenspiegel aus seinem Gewand und sah sich an. „Haha, das nenne ich Kunst!“ Er steckte den Spiegel wieder weg, blinzelte mir zu und schlug die Flügel vor sich zusammen. Sie verwandelten sich in menschenähnliche Gestalten. Verwirrende Schemen. Der Zwerg verschwand hinter diesen Gestalten. Ich hörte nur noch seine Stimme und ihr mehrfaches Echo: „Wir machen das auf unsere Art!“

8.
Der Flieger grübelt weiter:
Ich habe da von einem Spiel gehört, es ist ein einfaches Zwei-Personen-Spiel; man könnte es auch ein Zwei-Parteien-Spiel nennen. Da denkt man wahrscheinlich gleich an einen Wettkampf, aber hier geht es um ein Zusammenspiel. Und das gefällt mir. Bin ich doch ein großer Raum und daran interessiert, wie sich Gemeinschaften organisieren können. Welche Modelle und Experimente es da gibt. Siegen, Vernichten, Ausschluss interessieren mich nicht. Ich möchte meine Türen offen halten.
Also: in diesem Spiel hätten beide Parteien eigentlich den Anreiz, sich unkooperativ zu verhalten und so ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Das Aufregende daran aber besteht darin, dass zwar die Ablehnung von Zusammenarbeit für jeden Spieler aus seiner Sicht richtig wäre; es ist allerdings um eine Art Rivalitätsspiel, bei dem die Interessen der Beteiligten nicht genau entgegengesetzt sind, sondern individuelle und kooperative Interessen sich ineinander vermischen. Es geht also nicht um einen eindeutigen Gewinn, sondern beide Parteien könnten durch eine Kooperation einen Mehrwert erzeugen. Selbst wenn dieser Mehrwert sich nicht immer eindeutig in Zahlen festlegen lässt. Es ist also ein Spiel, welches genau die immer vorhandenen relativen Abhängigkeiten beachtet.
Ich habe gehört, dieses Spiel wurde schon in unterschiedlichen Situationen mit vielen Personen aus verschiedenen Fachbereichen gespielt. – Ich sage das, damit ich nicht völlig als weltfremder Traumraum da stehe. Mathematiker, Informatiker, Sozialwissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler und Psychologen haben das Spiel gespielt und getestet.
Es stellte sich heraus, dass das einfachste Reaktionsmuster am erfolgreichsten war. Sie nennen es „Tit for Tat“, auf Deutsch Wie-Du-mir-so-ich-Dir, was nicht Aug-um-Aug-Zahn-um-Zahn bedeutet. Oder vielleicht doch? Naja, darüber muss jeder selbst nachdenken. „Tit for Tat“ setzte sich auf jeden Fall gegen Vorgangsweisen durch, die trickreich versuchten, die Mitspieler zu übertölpeln. „Tit for Tat“ heißt, beim ersten Zusammentreffen mit dem anderen Spieler zu kooperieren und in allen weiteren Runden dann stets dessen Verhalten aus der Runde davor nachzuahmen. Das klingt ziemlich gut, finde ich.
Zugegeben, dem Spiel liegen idealisierende Annahmen zu Grunde, nämlich:
Alle Spieler sind mit den gleichen Ressourcen ausgestattet. Abgesehen von der Möglichkeit, sich in den einzelnen Spielrunden auf eine Kooperation einzulassen oder diese zu verweigern, haben sie keine Möglichkeit, anderen Mitspielern Belohnungen zukommen zu lassen oder Repressalien auszuüben.
Und: Abgesehen von der bisherigen Geschichte ihrer Interaktion in den vorangegangenen Spielrunden wissen die Spieler nichts voneinander.
Es ist wichtig, das anzusprechen; denn Grundvoraussetzungen, so musste ich feststellen, werden oft nicht beachtet. Menschen – und diese spezielle Spezies, die mit dem Körper arbeiten, sind da keine Ausnahme – orientieren sich nur an dem, was der oder die Andere zu haben scheint und nicht daran, woraus sich das zusammensetzt.
Lange Rede, kurzer Sinn: Hier sind die Spielregeln.
1.: Die Grundhaltung muss freundlich sein; d.h., niemals als Erster nicht kooperieren. Auch „defektieren“ genannt, wenn ich hier mal dieses Fachwort benutzen darf.
Dann, 2.: Sei schlagkräftig, aber nicht nachtragend. Das heißt, eine Defektion des Spielgegners soll mit einer Defektion zurückgezahlt werden, um anschließend wieder zu kooperieren. Dies ist wichtig, um nicht ausgenutzt zu werden. Die Strategie besteht also daraus, aus den Handlungen des Mitspielers zu lernen und sich dessen Züge zu merken. Anders begibt man sich in eine endlose Schleife der Nicht-Kooperation. Der Rückschlag sollte zwar deutlich, aber de-eskalierend sein.
Und 3.: – Das habe ich auf einem Zettel gelesen, der in mir zurückgelassen wurde: Die Strategie darf nicht neidisch sein!
Man beachte „die Strategie“. Als würde sich im Lauf der Zeit „die Strategie“ von den Beteiligten ablösen und ein eigenes Leben und Gedächtnis entwickeln. Womöglich weiß „die Strategie“ auch alles das, was man nicht öffentlich ausspricht, und kommuniziert es mit. Es sind also Vorsicht und Genauigkeit geboten. Sensibilität.
Ach ja, 4.: Sei nicht zu raffiniert. Das heißt, die Strategie muss für den Mitspieler durchschaubar sein, damit er sich auf sie einstellen kann und nicht glaubt, es sei irgendeine Zufälligkeit.
Natürlich ist dieses Spiel nur dann sinnvoll, wenn es die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Spielfortganges gibt und einen zukünftigen Gewinn, der ausreichend hoch ist. Wer Kooperation möchte, muss also für eine ausreichend häufige und ausreichend sichere Wiederkehr des Spiels sorgen.

9.
Manchmal hatten wir auch den Gedanken, diese Giftbombe wäre gar nicht direkt in diesem Ort gezündet worden. Denn das Gift war tatsächlich an vielen verschiedenen Stellen der Stadt zu finden. Wir hörten auch von KollegInnen aus anderen Ländern, dass sich das Klima änderte. Ja, so wurde darüber gesprochen: das Klima ändert sich. Kultivierte Gebiete wurden wieder zu Brachland. Jeder hatte mehr als genug damit zu tun, seine eigene Existenz zu retten. Man kämpfte um das eigene Überleben. – Was für eine eigenartige Aussage; leben wir doch in Regionen, in denen es ein Leichtes wäre, über eine gerechte Umverteilung die existentielle Basis zu sichern. Aber das, liebe LeserIn, ist eine andere Geschichte, über die wir uns gerne ein andermal unterhalten können.
Auch wir hatten nicht immer die Kraft und die Zeit, uns allen Gesprächen und Auseinandersetzungen auf gute Art und Weise widmen zu können. Es ist so verdammt viel Aufwand, die unterschiedlichen Strukturen, mit denen man aktiv ist, ausreichend zu betreuen. Du kennst das sicherlich.
Wir waren Teil einer Gemeinschaft und wollten diese mit anderen Strukturen in Verbindung bringen. Wir dachten, dass diese Verbindungen für sich sprechen. Wir dachten, Verbindungen und Austausch wären essentiell. In dieser allgemeinen Vergiftung aber wurde plötzlich so getan, als wären wir bloß ein lästiges Anhängsel. Als zählten für uns nur noch diese Verbindungen, mit welchen wir uns schmückten. Als würden wir der Gemeinschaft etwas wegnehmen. Natürlich waren wir stolz, wenn etwas funktionierte. Und alle diese Verbindungen schmückten auch die Struktur. Die Gemeinschaft, die unsere Basis war, profitierte auch von diesen neuen Kontakten. Davon sind wir überzeugt, und das wurde auch von anderen so gesehen.
Aber Strukturen, die ein System erhalten, sollen einfach sein. Alle wünschen sich das. Das macht weniger Arbeit, ist weniger aufwendig, denn die Mehrheit hat mit den eigenen Problemen schon genug am Hals. Für einige ist Einfachheit nicht das Wichtigste. Aber in der Demokratie gilt der Mehrheitsbeschluss. Das ist auch in basisdemokratischen Prozessen der Fall, die ja, wie erwähnt, schon aufwendig genug sind. Da fährt die Eisenbahn drüber, auch in einer ehemaligen Lokomotivenfabrik. Und wir, wir sind eine Minderheit und brauchen FürsprecherInnen.
Verzeih, liebe LeserIn, das klingt jetzt wahrscheinlich etwas pathetisch. Für uns hat es einige Zeit gedauert, bis wir das begriffen haben. Denn wir dachten eigentlich, dass die Zeit, in der man sich mit Dingen beschäftigt, die Kontinuität einer Beschäftigung, auch ein gewisses Vertrauen und Rechte mit sich bringt. Das war nicht der Fall.

10.
Ein Sturm ist aufgekommen. Er peitscht die Giftpartikel vor sich her, als wären es Geschoße. Alle gehen in Deckung. Das heißt, wir haben eigentlich keine Deckung. Wir suchen Schutz. Wir finden keinen. Es ist kalt. Eiseskälte durchdringt uns. Obwohl wir nicht mehr wissen, wo hinten und wo vorne ist, scheint alles aus einem Hinterhalt zu kommen. Dieses Gift. Wir haben es unterschätzt. Fatale Fehleinschätzung. Die unterschiedlichen Dinge sind kaum mehr zu erkennen. Ist das da eine Mauer vor uns? Oder schales Licht? Ist es ein Abgrund? Wir versuchen vorwärts zu kommen, verlieren aber immer mehr an Boden. Wer würde da noch ans Fliegen denken. Man weiß weder ein noch aus, so heißt es doch. In welche Richtung und wie weiter. Anderswo ist die Luft noch dünner. Durchhalten. Weitermachen. Diese Worte werden immer absurder. Wir drehen uns im Kreis und kommen nicht weiter. Wir prallen gegen eine Wand und wissen nicht einmal, woraus sie besteht. Sie ist Stille, Labyrinth, Gift, Ignoranz. Beschuss, Beschluss, Ausschluss, Gedankenlosigkeit. Wir kommen nicht hindurch. Jedes Wort wird zur entzündeten Blase. Das Gift verstärkt diese Blasen noch. Es verstopft die Ohren. Bis alle nur noch vor sich hin blubbern.
Der Würgeengel breitet sich aus. Diesmal haben wir nichts mehr zu lachen. Die einzige Möglichkeit ist: Raus hier.

11.
Es war eine Entscheidung, zu gehen. Diese Entscheidung ist nicht für alle leicht zu verstehen. Vielleicht muss man die Strukturen und Mechanismen des Ortes kennen. Trotz aller Konflikte, die wir im Laufe der Jahre an diesem Ort gemeinsam erlebt haben – und es sei hier nochmals gesagt: es ist ein Ort, den wir sehr schätzen, der viele Möglichkeiten bietet, die woanders nicht realisiert werden können. Trotz aller Konflikte war das Umfeld bisher nie derart von Feindseligkeit durchdrungen. Haben wir es verabsäumt, uns einen Platz in der Gemeinschaft zu sichern? Wir haben uns im Dazwischen verortet, wollten Rahmenbedingungen, die verbindliche Planung erlaubten. Dass sich diese Gemeinschaft auf eine Art und Weise verändern würde, die sich gegen uns richtet und uns zu Fremden an diesem Ort, unserem Zuhause macht, war nicht absehbar.
Wir waren mit der Verwirklichung unserer Vision beschäftigt, wie eingangs erwähnt. Diese Vision trägt uns auch jetzt noch weiter. Wir waren, wie andere, die ihre Projekte verfolgen, auch müde, uns mit der Anatomie der Entscheidungsprozesse auseinanderzusetzen und zu konfrontieren. Denn die Gefahr der Basisdemokratie besteht eigentlich darin, dass oft diejenigen, die am Lautesten sind, am Besten strukturell verankert, auch diejenigen sind, die sich durchsetzen. Es fehlt die Zeit, Inhalte zu differenzieren und Zwischenräume offen zu halten. Dann werden Strukturen und Organisationen plötzlich zu bloßen Verwaltungsapparaten.

12.
Der Flieger: Jetzt gehen sie tatsächlich! Es ist unglaublich! Wie stellen sie sich das vor? Das ist doch verrückt! Und ich? Was wird aus mir? Ich bin ein Theater! Ich liebe es auch, ein Proberaum zu sein, aber ich bin ein Theater! Es sind doch so viele gute Dinge passiert, diese Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Sie haben uns doch alle gefallen. Oder nicht? Einzelne sagen zwar, das Theater war nie ihr Anliegen und sie brauchen es nicht. Ihre Bedürfnisse sind gedeckt oder haben sich verändert. Trotzdem, so habe ich mir das nicht vorgestellt.
Jeder Abschied ist ein bisschen wie Sterben. Alles ist miteinander verbunden. Trennungen sind schmerzhaft. Sie tun weh. Denn es sind ja nicht nur einzelne Menschen, die zu mir gekommen sind und wieder gehen. Mit diesem Projekt habe ich zehn Jahre geteilt. Wir haben konstruiert, getanzt, gelacht und gefeiert. Wir haben gemeinsam fliegen gelernt. Was wird jetzt? Was können wir tun?
Vielleicht ein wenig innehalten. Sich anschauen. Danke sagen. Glück wünschen.

13.
In einem der tiefen Schlunde der Nacht, wo die Augenblicke sich ducken wie erschrecktes Getier und viele, die herumstreifen, zeitlos sind, wandert der Zwerg durch die Stadt. Die wilden Geschöpfe dämpfen ihr Winseln und machen sich davon, behände und eingeschüchtert, wenn sie seine Witterung aufnehmen. Es gibt unendlich viele Markierungen, an denen der Zwerg entlang streift.
Nachtvögel und Wesen, deren Sonne der Mond ist, machen Geräusche. Geschichten umgeben den Zwerg. Sie sind amorph, wie Träume, denen wir einen Sinn verleihen. Ein Rhythmus wird fühlbar, ausgehend von einem verborgenen Ort, gibt der Nacht Form, gibt ihr die Zeit zurück, und die Uhren stoßen den angehaltenen Atem aus. Ein neuer Morgen bricht an und frischer Wind ist zu fühlen.

14.
Wir wollen immer noch einen Raum gestalten. Einen Raum, in dem Bewegungen stattfinden, die über ihn hinausreichen. Raum, um zu denken. Raum für Möglichkeiten. Raum für Begegnung. Raum, um sich auszutauschen. Raum für interdisziplinäre Treffpunkte. Raum des Innehaltens. Raum für die Kunst. Einen Raum, der sich der Kontrolle entzieht. Denn wie anders sollte Kunst entstehen können, als ihren Nutzen durch eine bestimmte Nutzlosigkeit zu behaupten? Kunst ist keine Ware, dabei bleiben wir. Und wollen auch noch so unbedeutend scheinenden Samen einen Raum bieten. Dem Indirekten, der Verweigerung der direkten Zuordnung, die so leicht zum Instrumentarium repräsentativer Systeme wird.
Wir sind ein Experiment. Wir freuen uns auf das Unbekannte und sind neugierig. Wir wissen, Gefahren gibt es viele. Wir danken allen, die uns unterstützt und uns ermöglicht haben, all die Jahre diese reichen Erfahrungen zu machen, mit denen wir nun weiter gehen können. Wir hoffen auf viele weitere gemeinsame Unternehmungen. Und Dich, liebe LeserIn, wollen wir hier nochmals einladen, uns zu begleiten: Denn ohne Dich sind wir nur ich.

Quellen:
Random Talks, Im_flieger, 2010.
Jacques Rancière, „Die Aufteilung der Sinnlichen“, b-books, Berlin, 2006.
Jacques Rancière, „10 Thesen zur Politik“, diaphanes, Zürich-Berlin, 2008.
Michaela Ott, Harald Strauß (Hg.), „ÄSTHETIK + POLITIK. Neuaufteilung des Sinnlichen in der Kunst“, www.artnet.de, September 2011.
http://eipcp.net/transversal/1007/raunig/de, September 2011
Robert Axelrod, „Die Evolution der Kooperation“, Oldenburg, München, 1987.
China Miéville, „Die Narbe“ und „Leviathan“, Bastei Lübbe, Köln, 2004.
Gottfried Wagner, Kulturrissse, August 2011.

In diesen Zeiten der großen Veränderung gibt es große Themen, die auf uns zukommen.
Drei davon sind: „die Kunst des Überlebens“
(Nachhaltigkeit der Ressourcennutzung, Energie, Klima),
„die Kunst, Konkurrenz und Kooperation zu verbinden“
(Globalisierung, Mobilität und Migration) und
„die Kunst, transnationale Demokratie zu organisieren“
(Europa stellt sich gerade dieser Herausforderung).
Alle drei haben mit der Krise des gängigen ‚Geschäftsmodells’ zu tun.
Die tiefe Krise des Kapitalismus wirft kurz- und langfristig Systemfragen auf,
für die es weder ausreichende Analysen noch Strategien zur Überwindung gibt.
Eine wesentliche Dimension bei diesem Paradigmenwechsel wird die Rolle von Kunst und Kultur,
KünstlerInnen und Kulturschaffenden sein. Wie, das bleibt zu sehen und zu organisieren.